Farbe und Kunst: Goya


4. Das Irrationale in Goyas schwarzen Malereien
El Sueño de la razon produce monstruos
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Beschäftigung, ja Faszina-tion mit den Erscheinungsformen des Wahnsinns und seinem Verhältnis zu Vernunft, Na-tur und Gesellschaft feststellen. Dabei sind prinzipiell zwei unterschiedliche Einstellungen zu bemerken: einerseits eine rationalistisch aufklärerische, zunehmend wissenschaftliche Sicht des Wahnsinns in der zeitgenössischen Medizin, welche die Irren als potentiell heil-bare Kranke in speziellen Anstalten zu isolieren und die verschiedenen Geisteskrankheiten empirisch genauer zu erfassen begann; andrerseits eine eher ambivalente, teilweise roman-tisch-verklärte Auffassung in Literatur, Philosophie und Kunst, die den Wahnsinn in die Nähe des Genies rückte und in ihm schöpferische Kräfte sowie die Möglichkeit zu einem tieferen, echteren, nicht entfremdeten Menschen zu erkennen glaubte." Goyas Darstel-lung von Abnormem lässt sich jedoch nicht eindeutig einer bestimmten Grundeinstellung zuordnen. In der Darstellung der inneren Welt kann sich unvermutet auch etwas Krank-haftes zeigen als ein Reich des Verbotenen, Triebhaften, Schauerlichen und Dämonischen, als Reich der unbewussten Ängste und Wünsche, was in der Literatur als schwarze Ro-mantik bezeichnet wird. Sie tendiert zum Nihilismus , dazu also, den Halt der überlieferten Werte zu verlieren.

Das Genie, die Krönung des menschlichen Geistes, benutzt die Vernunft, um den Schleier von Aberglauben, Ignoranz und Ungerechtigkeit wegzureissen; der Wahnsinnige dagegen ist überwältigt von der Anarchie der zügellosen Leidenschaften und Gefühle. Die französische Psychiatrie um 1800, Pinel Esquirol und Etienne-Jean Georget, unterschied im wesentlichen vier Grundformen des Wahnsinns, die schon in der Aufklärung bekannt waren: die Melancholie, die sich durch Schwermut und Trübsinn ausdrückt; die Demenz (De-mence), durch eine Krankheit eingetretener Schwachsinn; die Idiotie (Idiotisme), das heisst der angeborene Schwachsinn und viertens die Manie, die sich unterteilt in Manie ohne De-lirium (Manie sans delire) und Manie mit Delirium (Manie avec fureur) als Kennzeichen des manischen Irreseins galten wild grimassierende Gesichtszüge und zerzauste Haare sowie Aggressivität und Zerstörungswut. Das sardonische Grinsen und die verdrehten Augen verschiedener Figuren in Goyas Bildern machen deutlich, dass er sich mit dem Geisteszu-stand des Wahnsinns auseinandergesetzt hat. Die bürgerliche Gesellschaft in der Romantik (1795-1830) tolerierte den Wahnsinn, das Chaos und das Irrationale (die Armen, Bettler, Alten und Wahnsinnigen) nicht mehr. Durch die Angst vor diesen "Kranken" wurden in Spanien Internierungshäuser geschaffen, die als Symbole des Zwangs und der Degradie-rung verstanden wurden. Der Wahnsinnige ist seit der grossen Internierung wieder zur ge-sellschaftlichen Gestalt geworden, es ist das erste Mal, dass man das Gespräch wieder auf-nimmt und aufs Neue befragt. Die Unvernunft erscheint wieder als Typ und nimmt wieder langsam einen vertrauten Platz in der sozialen Landschaft ein. Der Wahnsinn und das Ir-rationale wird wieder zu einem Thema.

In den schwarzen Malereien zeigt Goya das Chaos als Dissonanz, Unstimmigkeit und demaskiert den Wahnsinn mit den Darstellenden. In seinen Bildern werden die Grenzen zwischen einen realen und irrealen Welt aufgelöst. Seine Wahnsinnigen sind, etwa im Unterschied zu Füsslis Figuren, eher den Armen und Alten verwandt. Doch gleichzeitig wird das Dämonische, das in ihnen steckt, sichtbar, das unbekannte Dunkle, die Nacht, die als Motiv in der Romantik vorherrschend war. Hier frage ich mich, ob die Nacht nur als dunkle Finsternis, die das Prinzip des Dämonischen und Bösen beinhaltet und Ungeheuer erzeugt, lesbar ist oder ob die Nacht auch Urmutter ist, in der das Leben hervorspriesst, und das Chaos der Nacht zum Gegenort der Aufklärung wird, in dem Gefühle, Phantasie und Visionen in Einklang herrschen. In Goyas Bildern erscheint jedoch die Dunkelheit als Ab-wesenheit der Vernunft und somit der Ordnung. Die Nacht tritt als äussere dunkle Be-drohung auf.

Die Figuren unterhalten sich nicht mehr miteinander, sondern der Mensch ist in den Monolog zurückgefallen und es existiert keine Bindung des einzelnen an den Raum oder den Nachbarn mehr. In der Radierung Nadie se conoce (Man erkennt sich gegenseitig nicht) aus den Caprichos, Blatt Nr. 6, schrieb der Maler als Anmerkung: El mundo es una mascara; el rostro, el trage y la voz, todo es fingido. Todos quieren aparentar lo que no son, todos ena-ñan y nadie se conoce. Das Irrationale in Goyas Werk zeigt sich im Raumzerfall, bedingt dadurch, dass das Chaos Einbricht und die Vernunft, die alles rational ordnet, die Herrschaft verliert. Dieser Raumzerfall ist auch in den Gesichtern und Haltungen der Men-schen abzulesen, die mit ihren leeren Gesten unvermittelt im Raum stehen. Der Zusammen-hang mit der Umwelt ist zerstört und die Menschen sind in ihrer sozialen Verlassenheit dargestellt. Bei Goya ist das Diesseits verwirrt und vom Jenseits, von einer höheren Welt abgeschnitten.

Philipp Wyrsch, Zürich

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